1. Brief an die Kirche in Deutschland
Über die seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben
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Liebe Freunde in Deutschland,
Als ich sieben war und meine Schwester vier, habe ich ihr Lesen und Schreiben auf Englisch beigebracht.
Wir gingen das Vorhaben mit jugendlicher Zuversicht an, es kam uns gar nicht in den Sinn, dass es scheitern könnte. Ich nahm meine mir selbst auferlegte Rolle sogar so ernst, dass meine Schwester manchmal heulend zu einem Elternteil rannte: "John hat mir Hausaufgaben aufgegeben!"
Während ich ihr Privatunterricht gab, waren unsere Eltern in ihren eigenen Sprachstudien vertieft. Jeden Morgen standen sie auf und fuhren die steilen Serpentinen hinunter zum Goethe Institut im Mittelrheintal. Dort haben sie zwei Jahre lang fleißig ihre erwachsenen, einsprachigen Hirne trainiert, auf Deutsch zu beten, predigen und tratschen.
"War dein Vater in der Army?"
Das ist gewöhnlich die Rückfrage, wenn ich jemandem in den USA erzähle, dass ich in der BRD aufgewachsen bin.
Nein, Dad hat nicht gedient. Zumindest nicht im Militär. Erst Jahre später hatten wir überhaupt G.I.-Freunde, die uns am Rhein-Main oder Heidelberg-Stützpunkt in einen „Stars & Stripes‟-Buchladen mitnehmen konnten. Es gab kein Reddit, kein Sky Channel, man konnte sich nicht in eine kulturelle Ami-Blase zurückziehen. In einer vernetzten Welt können Expats die Assimilierung verweigern. In der BRD zu Zeiten des Kalten Krieges konnten wir das nicht.
Aber das spielte keine Rolle, denn wir wollten in Deutschland nicht als Ausländer auffallen, sondern als Christen. Integration war angesagt. Meine Schwester und ich haben auf Spielplätzen, mit Lustigen Taschenbüchern und Anime-Synchronfassungen von „Heidi‟ und „Captain Future‟ im ZDF mühelos die deutsche Sprache aufgesaugt. Zur Einschulung bekam ich eine Schultüte, wie alle anderen Kinder, trug Lederhosen und nannte mich „Johann.‟ (Im Laufe der Jahre wurde das zu „Hans‟ abgemildert und schließlich wieder zu „John‟. Die Lederhosen verschwanden nach dem ersten Schultag.)
Unser Sprachproblem war das Gegenteil von dem unserer Eltern. Expat-Familien können ihre Muttersprache verlieren, ohne es überhaupt zu merken. Die Muttersprache kann manchmal sogar zu einer hyperlokalen Mundart verkommen, das nur in einer Kleinfamilie oder in einem Haushalt gesprochen wird. Habe ich schon erlebt.
Mit sieben verstand ich diese Prozesse noch nicht, widmete mich aber trotzdem mit einer gewissen Dringlichkeit und Zielstrebigkeit dem Sprachunterricht meiner Schwester.
Es gab nämlich eine einzige Verbindung zum Land, das meinen Pass ausgestellt hat: die gelegentliche Kiste mit englischsprachigen Büchern, die vor unserer Haustür landete. Diese Kisten kamen sporadisch an, übersät mit Briefmarken und gefüllt mit willkürlichen Spenden der amerikanischen Gemeinden, die die Missionsarbeit meiner Eltern unterstützten. Diese Bücher wurden zu meinen persönlichen Totems. Sie waren magische Tore zu einer Herkunftskultur, die ich mit einem besonderem Heimweh vermisste und die gefühlt Galaxien von Weiler, Stadtteil von Boppard am Rhein, entfernt war.
Ich ahnte, dass meine kleine Schwester etwas Wertvolles verlieren würde, wenn ihr diese Tore verschlossen blieben. Also verdonnerte ich sie zu Hausaufgaben. Sie konnte fließend Englisch lesen, bevor sie in den deutschen Kindergarten kam.
Ich erzähle diese Geschichte aus einem bestimmten Grund. Ich habe meiner Schwester das Lesen mit Lehrmaterialien von einer Firma namens Abeka beigebracht. Diese „Beka Books‟ haben uns die Phonetik unserer Muttersprache nahegebracht, aber der Abeka-Lehrplan hielt auch andere Lektionen bereit.
Zum Beispiel, dass Robert E. Lee, Befehlshaber der Streitkräfte der Südstaaten während des amerikanischen Bürgerkriegs, ein großer Patriot war, ein großer Christ und ein großer Amerikaner. Dass das amerikanische System der Besitzsklaverei mild war. Es wurde ein Bild von einem größtenteils menschlichen System gezeichnet, das für die entführten und versklavten Menschen letztlich eine große Wohltat war. In den Büchern von Abeka wurde meine ferne Heimat vor allem als eine explizit christliche Nation beschrieben, deren Handeln im Laufe der Geschichte in einzigartiger Weise von Gott gesegnet war.
Der Leiter unserer Missionsorganisation hatte diese Bücher wärmstens empfohlen, bevor wir nach Deutschland gezogen sind. Soweit ich weiß, hatte er keine starke persönliche Loyalität gegenüber der „Lost Cause‟ (der verlorenen Sache) der Südstaaten. Meine Eltern auch nicht – wir betrachteten uns als Nordstaatler. Wir waren „Yankees‟. Mein Großvater, selbst Erweckungsprediger, brachte seinen fünf Kindern bei, die rassistische theologische Lehre der „Verfluchung Kanaans‟ abzulehnen. Und als „Fackeln im Sturm‟ im Fernsehen lief, wussten wir, dass die Soldaten in Blau die Guten waren.
Trotzdem wurde die südstaatliche Apologetik nicht nur in die Lesefibeln eingestreut. Sie fand sich auch in dem einen oder anderen Buch, das aus diesen magischen Kisten fiel. In meiner Welt war das nicht umstritten. Es wurde überhaupt nicht erwähnt.
Zur Veranschaulichung habe ich ein paar Bilder eingefügt.








In diesen ersten Jahren in Deutschland, bevor wir in einen kleinen Vorort in Hessen zogen, habe ich viel alleine in den Hügeln gespielt. Ich habe Festungen gebaut und primitive Pfeile und Bögen gezimmert. Ich habe Brombeeren gepflückt. Ich habe über das Tal zu den „Feindlichen Brüdern‟ auf dem gegenüberliegenden Hügel hinübergespäht, zwei winzige Burgen, die den Namen kaum verdienten. Ich malte mir die vielen heldenhaften Schlachten aus, die dort stattgefunden haben mussten.
Ich denke immer wieder an dieses Kind dort auf dem Hügel. Und darüber, wie sich schon damals – 1981, als ich dort hoch über Rheinkilometer 566 hockte – Propagandanetzwerke über den Atlantik erstreckten und mir rechtsextremes Gedankengut eintrichterten.
Ich denke in diesen Tagen auch immer öfter auch an Deutschland. Meine europäischen Netzwerke laufen seit 2016 heiß, und ich habe mit ehemaligen Kirchenältesten, Lehrerinnen und Mitschülern aus dem Internat gesprochen. Wir haben Fragen aneinander. Meine kann man so auf den Punkt bringen: Wie schlimm erscheint euch Amerikas Situation von dort aus gesehen? Sie dagegen wollen einfach wissen: „Wie zum Teufel war Donald Trump möglich?‟ Und warum sind alle meine christlichen amerikanischen Freunde so trotzig empört, wenn ich diese Frage stelle?
Mit dieser Frage beschäftige ich mich schon seit einiger Zeit. Ich bin damit noch nicht fertig, aber es ist höchste Zeit, für euch ein paar Zusammenhänge herzustellen.
Ich schreibe diesen Brief, um eine eher seltene Perspektive anzubieten: die eines Kindes US-amerikanischer evangelikaler Missionare, das deutsch aufgewachsen ist. In der Serie „Chernobyl‟ von Craig Mazin sagt jemand: „Kinder dürfen nicht mehr draußen spielen. In Frankfurt.‟ Das Kind in Frankfurt? Das war ich.
Also verspüre ich eine gewisse Verantwortung euch gegenüber, liebe Dani, lieber Hartmut, lieber Jörg; lieber Ulli, lieber Erick; lieber Felix, liebe Corinna, liebe Larissa; und liebe Alexandra, lieber Tomas, liebe Millay; sowie gegenüber der Gemeinde in Rödermark, die mein Vater vor 37 Jahren gegründet hat.
Aber ich schreibe dies auch an ganz Deutschland: Wenn ihr euch Sorgen macht darüber, oder neugierig seid, was gerade in meinem Heimatland passiert, dürft ihr gerne mithören. Es geht euch auch an.
Ich habe vor Kurzem den deutsch-österreichischen Film „Das weiße Band‟ nochmal geschaut. Diese Worte Michael Hanekes wollen einfach nicht aufhören, mir im Kopf herumzuschwirren:
Ich weiß nicht, ob die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, in allen Details der Wahrheit entspricht. Aber dennoch glaube ich, dass ich die seltsamen Ereignisse, die sich in unserem Dorf zugetragen haben, erzählen muss, weil sie möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können.
Ich biete weder ein Manifest noch eine umfassende Ideengeschichte. Ich bin weder ein Gelehrter noch ein Guru. Aber ich bin immer noch das deutsche Kind, das in der Kirchenbank stehend Bonhoeffers „Von Guten Mächten‟ gesungen und am Ende von Winnetou III Rotz und Wasser geheult hat.
Wenn uns das in irgendeiner Weise verbindet, möchte ich euch etwas Einfacheres anbieten: Dies hier ist mein Zeugnis für euch.
Wie es der Apostel Paulus formulierte: Ich will euch nicht in Unkenntnis lassen..
John Eremic
September 2024
Übersetzt von Millay Hyatt